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Was hat das Lernen mit dem Geschlecht zu tun?

 

Geschlechtsspezifische Unterschiede, Theorien über ihre Ursachen und Schlussfolgerungen für eine Pädagogik, die beiden Geschlechtern gerecht wird

 

Beobachtete Verhaltensunterschiede zwischen Mädchen und Jungen

 

Bereits bei Säuglingen sind erste Unterschiede im Verhalten zwischen Mädchen und Jungen zu beobachten, diese insbesondere in der Art der Kontaktaufnahme. Früh differenzieren sich geschlechtstypische Spielinteressen heraus. So ist schon bei Jungen im Alter von ca. zwei Jahren ein hohes Interesse an großen Spielfahrzeugen und an Baumaterialien zu erkennen, während Mädchen sich häufiger mit Puppen und Stofftieren beschäftigen. Toben, Raufen, expansive, laute und grobmotorische Spiele mit Wettkampf­charakter, riskante Spiele und Durchsetzungsverhalten werden als typisch für Jungen eingeordnet. Spiele mit hohen für­sorglichen und pflegerischen Anteilen und kooperative Spielformen gelten als typisch für Mädchen.[1]

 

Im Bereich der Intelligenz sowie der Fähigkeiten und Fertigkeiten sind bei Mädchen und Frauen feinmotorische Fertigkeiten sowie verbale Kompetenzen stärker ausgeprägt, bei Jungen und Männern liegt dagegen ein Vorsprung im räumlich-visuellen Vorstellungsvermö­gen und im quantitativ-mathematischen sowie im analytischen Denken vor.[2] Auch im Sozialver­halten gibt es Unterschiede: Während für Jungen und Männer Konkurrenz und Dominanz und in diesem Rahmen die Selbstdarstellung eine große Rolle spielen, wird bei Mädchen ein eher „prosoziales Dominanzverhalten“[3] festgestellt. Egalitäre Strukturen sind Mädchen in der Regel wichtiger als hierarchische Strukturen. Jungen organisieren sich eher in Cliquen mit einiger Durchlässigkeit, während bei Mädchen meist eine enge Bindung an eine Freundin zu beobachten ist. Entsprechend tauschen sich Mädchen über persönliche und emotions­besetzte Themen aus, während Jungen dahingehend orientiert sind, etwas miteinander zu unternehmen.

 

Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht im Selbstvertrauen. Jungen und Männer nei­gen zur Selbstüberschätzung[4], Mädchen und Frauen dagegen schätzen ihre Fähigkeiten eher zu niedrig ein. Diese Selbsteinschätzung wird trotz gegenteiliger Testergebnisse bei­behalten und führt zu unterschiedlichen Reaktionen gegenüber schwierigen Aufgabenstel­lungen. Jungen und Männer trauen sich schwierige Aufgaben zu und nehmen sie in Angriff, auch wenn geringe realistische Chancen zu ihrer Bewältigung bestehen. Mädchen und Frauen dagegen sind sehr schnell bereit, einen Misserfolg als Ausdruck ihrer mangelnden Kompetenz einzu­schätzen und infolgedessen ihr Anspruchsniveau zu senken oder ganz aufzugeben. Insbesondere durch diesen Unterschied in Kombination mit der unterschiedli­chen Durchsetzungsfähigkeit kommt es zu Disparitäten der Geschlechter in Konkurrenz- und Leistungssituationen, die den Mädchen und Frauen den Zugang zu bestimmten Fächern und Feldern der Arbeitswelt erschweren.[5]

 

Hervorzuheben ist, dass es keine Eigenschaft gibt, die nur bei einem Geschlecht existiert. So gibt es Mädchen mit mathematischer Begabung, die den Schnitt der Jungen in diesem Punkt weit übertreffen, und die Legion der Dichter und Schriftsteller dürfte Beweis genug sein, dass verbale Kompetenzen nicht die alleinige Domäne des weiblichen Geschlechts sind. Alle Fä­higkeiten und Kompetenzen, die als „typisch weiblich“ oder „typisch männlich“ bezeichnet werden, sind auch beim Gegengeschlecht zu beobachten und bei gegengeschlechtlichen Individuen oft stärker ausgeprägt als beim statistischen Durchschnitt des Geschlechts, das hier seinen Kompetenz­schwerpunkt hat. Doch trotz der statistischen Überlappungen hat sich in den meisten Kulturen eine Polarisation der Geschlechter herausgebildet, die in ge­schlechtsspezifische Berufswahlen und Aufstiegsmöglichkeiten mündet und es insbesondere Mädchen und Frauen zur Zeit schwer macht, einen gleichberechtigten Zugang zu manchen Berufsfeldern zu finden. Dies gilt z. T. für den Bereich der Naturwissenschaften, insbeson­dere aber für alle Berufe, die mit Technik zu tun haben.

 

Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, wie diese Disparitäten wissenschaftlich erklärt werden.

 

Wissenschaftliche Erklärungsansätze

 

Sozialisationsforschung

 

Die Sozialisationsforschung der letzten 30 Jahre geht davon aus, dass die Geschlechtsrollen kulturell geformt werden und den Kindern von ihrer Geburt an als Stereotypen präsentiert werden, die über unterschiedliche Lernformen dazu beitragen, dass Mädchen und Jungen sehr schnell unterschiedliche geschlechtsspezifische Fähigkeiten, Fertigkeiten und Denkwei­sen erwerben.

 

Basierend auf verschiedenen psychologischen und lerntheoretischen Modellen – angefan­gen vom tiefenpsychologischen Persönlichkeitsmodell Freuds über verschiedene Lerntheo­rien bis hin zu Kohlbergs Modell der Geschlechtsrollenübernahme – versucht die Sozialisa­tionsforschung nachzuweisen, dass Kinder durch Identifikation mit Bezugspersonen, durch Imitation von Modellen sowie durch die permanente Verstärkung von geschlechtstypischem Verhalten seitens der erwachsenen Bezugspersonen stark zur Übernahme stereotypisierter kultureller Geschlechtsrollen gedrängt werden.

Tatsächlich unterscheiden sich die Erziehungsziele, die Mütter für ihre Töchter und für ihre Söhne formulieren, in vielen Aspekten. So stehen Ehrgeiz, Disziplin, Zivilcourage sowie Technikverständnis und handwerkliche Fähigkeiten bei den Zielen für die Jungen im Vorder­grund, während Hilfsbereitschaft, Haushaltsführung, Zärtlichkeit sowie Aufgeschlossenheit gegenüber anderen besonders bei Mädchen genannt werden.[6] Diesem Ansatz zufolge prä­gen also die Erwartungen und Verstärkungsmechanismen der Erwachsenenwelt das Ge­schlechtsrollenverhalten von Mädchen und Jungen.

 

Den Aspekt der Selbstsozialisation betont – neben biologischen Begründungen – Eleanor Maccoby: Kinder, die von der Geburt an darauf angelegt sind, alles von ihnen Beobachtete in Kategorien einzuteilen[7], nehmen polarisierend wahr, dass es zwei „Kategorien“ von Men­schen gibt, ordnen sich entsprechend ein und verstärken in der Peer-group gegenseitig ihr geschlechtskonformes Verhalten.[8] „Das darfst/kannst du nicht, weil du ein Junge/Mädchen bist.“ – „Das darf/kann ich, weil ich ein Junge/Mädchen bin.“ wäre so die Leitlinie für das Verhalten in der Gleichaltrigengruppe. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass zu­nächst alles, was in Zusammenhang mit dem eigenen Geschlecht steht, als wertvoll und positiv eingeschätzt wird. Durch die affektive Besetzung erhalten solche Urteile ein beson­ders hohes Gewicht und bleiben entsprechend lange haften. Die tägliche „Aufführung“ der eigenen Geschlechtsrolle, das „doing gender“, kann mit dazu beitragen, dass einerseits ge­schlechtstypische Fähigkeiten eingeübt werden, andererseits die gegengeschlechtlichen Kompetenzen überhaupt nicht erworben werden.

Eine Fülle von Untersuchungen in Bereichen der familiären, vorschulischen und schulischen Erziehung bringt Belege dafür, dass Teile der Geschlechtsrolle tatsächlich in einem Prozess der Sozialisation und Enkulturation erworben werden. Nur so können sich verstärkende Ent­wicklungen im Verlauf der schulischen Sozialisation – wie z. B. die zunehmende Distanz von Mädchen zu mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern und Fragestellungen – und die daraus resultierende Polarisierung bei der Besetzung von Berufsfeldern erklärt wer­den.

 

Biologische und ethologische Forschung

 

Doch reichen diese Forschungsergebnisse und die zugrundeliegenden Theorien nicht als alleinige Erklärung aus, denn geschlechtsspezifisches Verhalten ist beim Individuum bereits sehr früh, also bereits vor dem Einsetzen wesentlicher kognitiver und affektiver Lernpro­zesse, zu beobachten, und es findet sich außerdem – in unterschiedlich scharfer Ausprä­gung – in allen menschlichen Kulturen. Diese Auffassung vertritt die Entwicklungspsycholo­gin und Konrad-Lorenz-Schülerin Doris Bischof-Köhler. Die von ihr zitierten Beispiele legen nahe, dass auch bei gegenteiliger Erziehungsintention, wie sie in den Kinderläden der Stu­dentenbewegung oder in den egalitären Gemeinschaften der israelischen Kibbuzim vor­herrschten, Kinder stark geschlechtstypisches Verhalten aufwiesen.

 

Ausgehend von der Evolutionstheorie, die als Ziel allen Lebens die Weitergabe der eigenen Gene durch Zeugung und Aufzucht überlebensfähigen Nachwuchses ansieht, legt Bischof-Köhler dar, dass Männer und Frauen infolge ihrer unterschiedlichen biologischen Ausstat­tung und der unterschiedlichen Notwendigkeit zur „parentalen Investition“[9] im Laufe von Jahr­millionen unterschiedliche Strategien der Partnersuche und Partnerwahl entwickelt haben. Beim männlichen Geschlecht entwickelte sich „wegen der Notwendigkeit, um Weib­chen zu konkurrieren, eine spezifische Wettkampforientierung mit der Betonung assertiver Strategien“[10]; die Möglichkeit, die eigenen Gene auf mehrere Weibchen zu verteilen, könnte außerdem ein räumlich expansiveres Verhalten erfordert haben. Das Weibchen dagegen, das nur eine begrenzte Zahl von Kindern zur Welt bringen konnte, musste bei der Partner­wahl selektiver vorgehen. Da es durch die lange Tragezeit und die anschließende Pflege viel Zeit und Energie in den Nachwuchs investierte, konnte sich eine höhere Fürsorglichkeit ent­wickeln. Im Verlauf der Phylogenese wurden diese unterschied­lichen Schwerpunkte weiter begünstigt durch eine Arbeitsteilung, die den Frauen die Aufgabe der alltäglichen Versor­gung durch das Sammeln von Früchten und Pflanzen im Nahbereich des Zuhauses und da­mit des Nachwuchses zuwies, während die Männer kooperative Arbeitsformen in der Groß­wildjagd entwickelten und außerdem Konflikte mit benachbarten Gruppen austrugen.

 

So entstand nach Einschätzung Bischof-Köhlers ein geschlechtsspezifisches Verhaltens­potential, das von den Kulturen in ihren Stereotypen aufgegriffen wird. Aber diese Stereoty­pen werden den Kindern nicht übergestülpt.

 

Vielmehr legen Mädchen und Jungen von Geburt an bereits typische Verhaltensweisen an den Tag, die eine unterschiedliches Interaktionsmuster der Mutter herausfordern. Während z. B. Jungen nach ihrer Geburt gesundheitlich und emotional labil sind und in den ersten Monaten hohe Zuwendung fordern, sind Mädchen neuronal weiter entwickelt, emotional sta­biler, pflegeleichter. Später reagieren Mädchen kommunikativer und fordern die Mutter zu erweiterter Kommunikation heraus.

 

Bei Männern und Frauen können unterschiedliche gehirnanatomische Strukturen beobachtet werden. Die Lateralisierung des Gehirns ist bei Männern deutlicher ausgeprägt als bei Frauen, deren Gehirn „eher bilateral organisiert zu sein scheint“.[11] Das weibliche Corpus Callosum enthält deutlich mehr Nervenbahnen als das männliche, diese wiederum begünsti­gen den Austausch zwischen den Gehirnhälften.[12] Nun könnte eine unterschiedliche Gehirn­anatomie auch das Ergebnis jahrtausendelanger Sozialisation sein. Doch wurde nachgewie­sen, dass durch hormonelle Einflüsse, insbesondere Androgene, die in der pränatalen Phase ausgeschüttet werden, nicht nur die Morphologie der Geschlechtsorgane von Jungen beein­flusst wird, sondern auch Gehirnstrukturen und damit Verhal­tensdispositionen in Richtung von Konkurrenz und aggressiver Konfliktbewältigung, verbunden mit erhöhten räumlich-visu­ellen Kompetenzen. Auch könnten hier unterschiedliche Denkstile der Geschlechter ihren Ursprung haben. Während Jungen eher funktional und prozessorientiert denken, also Infor­mationen mit einem Zweck oder einer Funktion verbinden, ist bei Mädchen prädikatives und statisches Denken, ein Denken in Form von Relationen, Klassifizierungen, begrifflichen Ver­knüpfungen stärker zu beobachten. Die kognitive Strategie von Jungen besteht eher im in­teraktiven Ausprobieren mit Zwischen­lösungen, während Mädchen zunächst versuchen, das ganze Problem mit allen Aspekten zu verstehen. Auch dies führt Bischof-Köhler zurück auf die unterschiedlichen phylogenetischen Funktionen, bei denen Frauen den ganzen Haushalt und die Bedürfnisse aller Mitglieder einschließlich vieler Nebensächlichkeiten im Blick haben mussten, während sich Männer es sich eher leisten konnten, dieses Umfeld auszublenden, um sich auf ein Teilproblem zu konzentrieren.

 

Mit der Feststellung unterschiedlicher kognitiver Strategien darf keine Wertung verbunden sein. Bischof-Köhler vermutet jedoch, dass die herkömmliche Mathematikdidaktik und die generell verwendeten Tests eher auf „männliche“ Strategien hin konzipiert sind und es da­durch Mädchen erschweren, ihre Fähigkeiten auszubauen. Unterschiedliche Begabungs­schwerpunkte – die durch Förderung ohne weiteres zu kompensieren sind – und Lernange­bote, die der eigenen Denkstrategie nicht angepasst sind - dies in Verbindung mit dem ge­schlechtsspezifisch deutlich unterschiedlich ausgebauten Selbstvertrauen[13] und gesellschaftli­chen Pauschalurteilen, die Frauen weniger Erfolgschancen zuschreiben[14] - münden in eine sukzessive Benachteiligung von Mädchen im Prozess schulischen Lernens in den Fächern Mathematik und Physik. Unterstützt wird dies noch durch unterschiedliches Verstärkungsverhalten von Erziehenden gegenüber Mädchen und Jungen. Dieses führt Bi­schof-Köhler jedoch nicht, wie bisher die feministische Sozialisationsforschung, darauf zu­rück, dass den Mädchen wegen eines diskriminierenden Frauenbildes generell weniger zu­getraut wird. Im Gegenteil: Da Mädchen sich von Anfang an verhältnismäßig pflegeleicht und unterstützend zeigen, trauen ihnen Eltern und Lehrer mehr zu und loben sie bei vielen als selbstverständlich eingeschätzten Leistungen nicht. Da sie in ihrem Arbeitsstil, in Fleiß und im „Betragen“ meist unauffällig sind, erhalten Mädchen Tadel überwiegend für intellektuelle Fehler. Jungen dagegen werden in allen Bereichen getadelt, doch am häufigsten für intel­lektuelle Leistungen gelobt. Mädchen nehmen sich – eben wegen ihrer genetisch veranker­ten sozialen und moralischen Kompetenz[15] - Tadel deutlich mehr zu Herzen. „So ergeben sich für beide Geschlechter aus den unterschiedlichen Gesamtbilanzen von Lob und Tadel unterschiedliche Auswirkungen auf das Selbstgefühl, mit einem positiven Effekt bei den Jun­gen und einem negativen bei den Mädchen.“[16] Obwohl Mädchen zunächst positiver bewertet werden, resultieren am Ende ein negativeres Selbstbild und u. U. schwächere Leistungen.

 

Wenn die Geschlechter – so z. B. in koedukativen Situationen, später dann auch in der Ar­beitswelt – in Konkurrenz geraten, ziehen Mädchen und Frauen meist den Kürzeren. In ge­mischtgeschlechtlichen Situationen zeigen sich Jungen eindeutig dominant[17], während Mäd­chen unter Konkurrenzdruck gehemmt reagieren.[18] Auch dies führt Bischof-Köhler auf die biologische Grundausstattung zurück.

 

Das Gender[19]-Mainstreaming[20]-Prinzip der Europäischen Union

 

Auch wenn die Menschen in Jahrmillionen geschlechtsspezifische Verhal­tens­dispositionen erworben haben mögen, so rechtfertigen die unterschiedlichen Begabungsschwerpunkte doch keine Bevorzugungs- oder Ausschließungsstrategien hinsichtlich bildungsbezogener oder beruflicher Entscheidungen. In allen EU-Staaten lässt sich eine zunehmende Berufstä­tigkeit von Frauen feststellen. Die berufliche Gleichstellung der Geschlechter hat die EU als ausdrückliches Ziel formuliert. Um sie zu erreichen, wurde das Gender Mainstreaming-Prin­zip in den Amsterdamer Vertrag der EU vom 1. Mai 1999 aufgenommen und in den beschäf­tigungspolitischen Leitlinien von 1999 konkretisiert. Das Prinzip besagt, dass alle Maßnah­men der EU in den ihr angehörigen Staaten auf ihre möglichen Auswirkungen für beide Ge­schlechter hin zu untersuchen und nur dann zu realisieren sind, wenn sie die Gleichstellung der Geschlechter unterstützen. Von Anfang an müssen in allen Politikfeldern geschlechts­spezifische Belange berücksichtigt werden. Angestrebt werden die Gleichrangigkeit der Er­werbsarbeit für und die Gleichverteilung der bezahlten Arbeit auf beide Geschlechter. [21]

 

Überlegungen hinsichtlich des pädagogischen Vorgehens in der Technischen Früh­erziehung in Kindertageseinrichtungen

 

Betrachtet man die unterschiedlichen Dispositionen, Einstellungen, Verhaltensweisen und Verarbeitungsformen von Jungen und Mädchen, dürfte klar werden, dass Technische Früh­erziehung nicht geschlechtsneutral sein kann. Es geht dabei nicht um Gleichmacherei[22], son­dern um gleiche Chancen.

 

In den meisten deutschen Kindertageseinrichtungen[23] ist Gender Mainstreaming noch nicht angekommen. Dies ist um so bedauerlicher, als Kindergartenpädagogik wie kaum eine andere Institution gesellschaftliche Geschlechterstrukturen in ihren traditionellen Formen abbildet und durch das tägliche Handeln der Erzieherinnen und Erzieher immer wieder reproduziert, so dass deren Auswirkungen zumeist verdeckt wirksam sind.

 

Mehrere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass in den Tageseinrichtungen für Kinder eine geschlechtsbewusste Haltung kaum zu beobachten ist. Die meisten Erzieherinnen behaupten von sich, sie würden Mädchen und Jungen gleich behandeln. Untersuchungen und Erfahrungsberichte belegen jedoch genau das Gegenteil. Besonders Jungen gegenüber verhalten sich Erzieherinnen auffallend unsicher, da sie fürchten ihnen nicht gerecht werden zu können. Jungen bekommen z.B. mehr Aufmerksamkeiten und werden stärker sanktioniert als die Mädchen, da das Verhalten von Jungen eher als Störung wahrgenommen wird. Mädchen werden dagegen als unauffälliger und angepasster wahrgenommen. In Stuhlkreisen z.B. werden Jungen eher angesprochen und zum Sprechen ermutigt als Mädchen.

 

Ursula Rabe-Kleberg weist in ihrer Analyse des Kindergartens auf die besonderen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Gender Mainstreaming umfassend hin. Geschlechtsbewusstes, reflektiertes Handeln ist demnach in Kindertageseinrichtungen selten anzutreffen. Als Folge dieser Situation gibt es in Deutschland auch kein schlüssiges Gender Mainstreaming-Konzept für Kindertageseinrichtungen.

 

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Initiierung von Genderprozessen in Kindertagesstätten, darin sind sich alle Autorinnen und Autoren einig, ist die Entwicklung von Genderkompetenz bei den pädagogischen Kräften. Damit ist die Fähigkeit gemeint, "Genderwissen"[24] aufzunehmen und in der pädagogischen Arbeit fachlich kompetent umzusetzen.

Gleichzeitig ist die Entwicklung einer geschlechtsbewussten, reflektierten Grundhaltung als Querschnittsaufgabe für die Arbeit mit Kindern ein wichtiger Schritt hin zur Erarbeitung von Handlungskonzepten, die den Blick auf die unterschiedlichen Lebenswelten von Mädchen und Jungen schärfen. Dabei ist es wichtig, die Kinder in ihrem Bemühen zu beobachten und zu unterstützen, ihre Identität als Mädchen und Junge zu konstruieren. In diesem Prozess des doing gender muss vermeintlich Eindeutiges, Selbstverständliches immer wieder neu in Frage gestellt und müssen die Handlungsmöglichkeiten von Mädchen und Jungen erweitert werden.

 

Dies gilt insbesondere für den Bereich der technischen Früherziehung, da die meisten Erzieherinnen enorme Berührungsängste gegenüber Technik entwickelt haben und deshalb technikbezogene Themen meiden.

 

Was ist nun bei gendersensibler technischer Früherziehung zu berücksichtigen?

 

Wie in allen Maßnahmen der EU die Auswirkungen auf beide Ge­schlechter vorab bedacht werden, ist auch bei jedem Projekt, bei jeder Einrichtung neuer Spiel- und Lernbereiche, aber auch im alltäglichen Umgang mit den Kindern in Kinderta­geseinrichtungen der Gender Mainstreaming-Gedanke zur berücksichtigen und zu fragen:

 

  • Existieren in der Einrichtung für die Geschlechter unterschiedliche Normen und Werte und können diese zu einer unterschiedlichen Wertschätzung oder zu unterschiedli­chen Lern-, Entwicklungs- und Beteiligungschancen führen?
  • Gibt es Beteiligungschancen oder Zugangsbarrieren (in Bezug auf Aktivitäten, Raum, Zeit), die vom Geschlecht abhängen?
  • Gibt es eine Verteilung der pädagogischen Aufmerksamkeit nach dem Geschlecht?
  • Wird in der Gruppe geschlechtsspezifisch unterschiedliches Durchsetzungs- und Kon­kurrenzverhalten, sofern es die Chancen des anderen Geschlechts mindert, tole­riert oder unterstützt?
  • Werden den Geschlechtern unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu Spiel-, Lern- und Experimentier­mitteln und –materialien eingeräumt?
  • Ist es erforderlich, in bestimmten Lern- und Spielsituationen auf besondere Stärken und Schwächen oder spezifische Denkstrukturen eines der Geschlechter Rücksicht zu nehmen?
  • Ist es erforderlich, die Mädchen besonders für den Lernbereich Technik zu motivieren und zu verstärken?
  • Ist es sinnvoll, Experimentier- und Konstruktionssituationen in ihrer Gestaltung auf die jeweiligen Interessen der Geschlechter zu beziehen?
  • Ist es sinnvoll, gelegentlich mit geschlechtsgetrennten Gruppen zu arbeiten?

 

 

 

 



[1] Bischof-Köhler, Doris: Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede, Stuttgart 2002, S. 376 f.

[2] ebd., S. 234.

[3] ebd., S. 317.

[4] ebd., S. 271.

[5] ebd., S. 262.

[6] Faulstich-Wieland, Hannelore: Geschlecht und Erziehung. Grundlagen des pädagogischen Umgangs mit Mädchen und Jungen. Darmstadt 1995, S. 100. Hier findet sich auch eine Zusammenfassung wesentlicher Forschungsergebnisse zur geschlechtsspezifischen Sozialisation.

[7] Vgl. hierzu: Zimmer, Dieter E.: So kommt der Mensch zur Sprache. Über Spracherwerb, Sprachentstehung und Sprache & Denken. München1996.

[8] nach Prestl, Bernhard: Maccoby, Eleanor E. (2000): Psychologie der Geschlechter. Sexuelle Identität in den verschiedenen Lebensphasen. In: http://www.unet.univie.ac.at/~a9908198,  S. 2

[9] D. h., zu den ihnen abverlangten Mühen zur Zeugung und Aufzucht ihres Nachwuchses. Vgl. hierzu Bischof-Köhler, a.a.O., S. 112ff.

[10] ebd., S. 371. Gemeint sind Aggressionen, die in Konkurrenzsituationen auftreten.

[11] ebd., S. 240

[12] Eberhard-Metzger, Claudia: Eva war zuerst da. In: http://machno.hdm-stuttgart.de/~brenner/mann2.htm

[13] Auch für dieses gibt es eine biologische Erklärung. Vgl. Bischof-Köhler, S. 298ff

[14] ebd., S. 277

[15] ebd., S. 359 ff

[16] ebd., S. 283

[17] ebd., S. 326

[18] ebd., S. 328

[19] Das Wort „gender“ bezieht sich im Gegensatz zum Wort „sex“, welches im Englischen die biologischen Aspekte des Geschlechts bezeichnet, auf die sozial und kulturell definierten Aspekte der Geschlechtsrolle.

[20] Der Begriff „Mainstreaming“ drückt aus, dass es hier nicht um einzelne Sondermaßnahmen geht, sondern dass breitflächig allgemeine politische Konzepte und Maßnahmen betroffen sind.

[21] Stiegler, Dr. Barbara: Wie gender in den mainstream kommt.  In: Friedrich-Ebert-Stiftung: Digitale Bibliothek. www.fes.de/fulltext/asfo/00802001.htm

[22] So kann man nach Bischof-Köhler davon ausgehen, dass Männlichkeit und Weiblichkeit nicht auf derselben Ebene angesiedelt sind wie die Eigenschaften, die sich in Spiel-, Lern- und Arbeitsverhalten als geschlechtstypisch herausbilden.

[23] "Kindertageseinrichtungen", das sind Kindergärten, Horte und andere Einrichtungen, in denen sich Kinder für einen Teil des Tages oder ganztags aufhalten (Kinder- und Jugendhilfegesetz, § 22)

[24] Rabe-Kleberg versteht unter Genderwissen "neben der Analyse, also der Generierung von Wissen, und der Bildung, also dem Transfer von Wissen, auch gegenseitige Konsultation und gemeinsame Reflexion." Rabe-Kleberg (2003) S, 97