Die bildungspolitische
Diskussion in Deutschland
Das Projekt Technische Früherziehung möchte nach
Wegen suchen, Kinder ab dem Kindergartenalter an naturwissenschaftliche und
technische Fragestellungen heranzuführen, um frühzeitig ein entsprechendes Interesse
zu wecken oder die in diesem Alter vorhandene Neugier zu nutzen. Ziel ist es
dabei, schon bei den Kleinsten den Grundstein für ein
mathematisch-naturwissenschaftliches Verständnis zu legen und damit langfristig
entsprechende Kompetenzen zu fördern. Dabei soll besonders auf die frühe
Förderung der Mädchen geachtet werden, die nach wie vor sobald es um die
Entscheidung für einen Beruf geht- in technischen Bereichen unterrepräsentiert
sind.
PISA
Die Veröffentlichung der
PISA-Studie im Winter 2001 hat ergeben, dass Leistungsfähigkeit und Wissen von
Schülerinnen und Schülern im naturwissenschaftlich-technischen
Bereich auch in technisch hoch entwickelten Ländern Europas noch stark
förderbedürftig sind. So nimmt Deutschland bei den ertesteten Basisleistungen
in den Fächern Mathematik und
Naturwissenschaften den 20. Platz von insgesamt 31 Ländern ein, die sich
an der OECD-Studie beteiligt haben.
Jungen haben in diesen Fächern trotz aller Bemühungen um Gleichberechtigung
immer noch einen Vorsprung gegenüber den Mädchen. Die Frage nach den Ursachen
für das insgesamt schlechte Abschneiden deutscher Jugendlicher im Alter von ca.
15 Jahren hat in den vergangenenzwei Jahren folgende Diskussionsaspekte ergeben:
-
Wie kann besser gelernt werden, Wissen und Kompetenzen in
anwendungs- und praxisorientierten Zusammenhängen nutzen zu können?
-
Wie können Lernstrategien verbessert werden?
-
Wie können wir eine bessere Lernkultur entwickeln?
-
Wie können wir Lernfenster und Lernperioden der Kinder
besser nutzen?
Die Rolle der Kindergärten in Deutschland
Gerade die letzten beiden Aspekte
zeigen, dass sehr bald nach Erscheinen der PISA-Studie auch die Kindergärten in
die Bildungsdiskussion mit einbezogen werden mussten. Die Diskussion um die
Ergebnisse der Studie hat deutlich gemacht: Während in den meisten Ländern der
Kindergarten als Bildungseinrichtung arbeitet, hatte er bislang in Deutschland
die Rolle einer Einrichtung, in der Eltern ihr Kind möglichst lange belassen,
damit es noch ein wenig spielen darf.
Auch die Erzieher und Erzieherinnen waren und sind in Deutschland skeptisch in Bezug auf das Lernen: Sie setzen
es gleich mit Leistungsdruck und Überforderung, sprechen schnell von
Verschulung und beklagen den Verlust von Kindheit schlechthin.
Wassilios Fthenakis, Direktor des
Münchner Staatsinstitutes für Frühpädagogik und einer der wenigen deutschen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit den
Bildungsmöglichkeiten auch kleiner Kinder befassen, bemängelt entsprechend die
Defizite in den Kindergärten: Deutschland hat es unterlassen, Vorformen des
schulischen Lernens im Elementarbereich angemessen zu fördern.
Die einzige systematische
Untersuchung zur Qualität von Kindergärten ist inzwischen fünf Jahre alt,
stammt von Wolfgang Tietze und kam zu dem Schluss, zwei von drei Kindergärten
seien höchst mittelmäßig. In nur drei von zehn Kindergartengruppen gab es
bedeutungsvolle Gespräche zwischen den Kindern und Erziehern; gemeinsame
Aktivitäten machten nicht einmal 7 % der beobachteten Zeit aus.
Noch werde in vielen deutschen
Kindergärten den Kleinen unterstellt, sie hätten es gern möglichst
anspruchslos, bemängelt entsprechend auch Donata Eschenbroich,
Kulturwissenschaftlerin und Mitarbeiterin am Deutschen Jugendinstitut in
München, deren Buch Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt
entdecken können für mehrere Wochen auf den Bestsellerlisten des deutschen
Buchhandels stand.
Bildung im Elementarbereich
Dabei hat die
Entwicklungspsychologie schon längst sogenannte kognitive Fenster im dritten
bis fünften Lebensjahr entdeckt: Es handelt sich um den optimalen Zeitpunkt für
die Aneignung von Akzent und Basisgrammatik einer zweiten Sprache, für die
Orientierung im Raum und für elementares mathematisches Denken. Der Münchner
Neurobiologe Ernst Pöppel mahnt dementsprechend, dass die Jahre im Kindergarten
zur wichtigsten Lernphase zählten und die Institutionen deshalb keine
Aufbewahrungsanstalten sein dürften, sondern Orte, an denen Kinder spielerisch
umfassend Wissen erwerben.
Der außerordentlichen Lernfähigkeit des Gehirns entspricht bei Kindern im
Vorschulalter eine besondere Lernbereitschaft, die sich in nahezu allen
Bereichen als Neugier und Wissbegierde äußert und das noch ohne Beeinflussung
durch jeglichen schulischen Leistungsdruck.
Wo es hingehen könnte mit der
Pädagogik für Vorschulkinder, haben schon 1996 Experten der europäischen
Kommission in einem auf zehn Jahre angelegten Aktionsprogramm vorgelegt: Die
Bildung der Kindertagesstätten habe ein Verständnis für mathematische, biologische
naturwissenschaftliche, technische und ökologische Konzepte sowie musische und
ästhetische Fähigkeiten zu fördern.
Auch die deutsche Gesetzgebung hat
überraschenderweise auch schon vor PISA wenig Zweifel gelassen: Kindergärten
sind Bildungseinrichtungen. § 22 Abs.2 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)
formuliert unter der Überschrift Grundsätze zur Förderung von Kindern in
Tageseinrichtungen Folgendes: Die Aufgabe umfasst die Betreuung, Bildung und
Erziehung des Kindes. Das Leistungsangebot soll sich pädagogisch und
organisatorisch an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien orientieren.
Damit sind alle Bundesländer verpflichtet, den Bildungsauftrag im Kindergarten
zu realisieren. Das
Bundesverfassungsgericht hat in einem 1998 gesprochenen Urteil den Kindergarten
als Ort der Förderung von Chancengleichheit bezeichnet und den Anspruch der
Kinder auf eine optimale Förderung und einen möglichst weit gehenden Ausgleich
von Bildungsbenachteiligungen vor dem Schulbeginn hervorgehoben.
Die Praxis hat es lange anders
ausgesehen. Es gab fast gar keine Konzepte für die Frühförderung in
Deutschland. Das Forum
Bildung, in dem Bildungs- und Wissenschaftsministerinnen und minister des
Bundes und der Länder sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft,
Kirche und sozialen Organisationen
zusammenarbeiten, hat dementsprechend im November 2001 Empfehlungen
veröffentlicht, in denen es die Bedeutung der frühen, individuellen Förderung
von Kindern betont und fordert, der Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen
müsse definiert werden. Hier heißt es auch ausdrücklich, die
Forschungskapazitäten für die Frühpädagogik müssten ausgebaut werden und es
seien Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, von den positiven Erfahrungen
des europäischen Auslands zu profitieren.
Die OECD-Studie Starting Strong
Early Childhood Education and Care von 2001 kritisiert überdies, dass
Deutschland und Österreich im Unterschied zu allen anderen Ländern keine (Fach-)Hochschulausbildung für Erzieherinnen
und Erzieher kenne, so dass Bildung und Erziehung in der Regel hinter der
Betreuung der Kinder zurückstünden.
Deutschland investiert erheblich weniger in die ersten Bildungsjahre als
beispielsweise Österreich, die Schweiz, die USA und vor allem skandinavische
Länder. Dabei gibt es offensichtlich einen Zusammenhang zwischen einer
qualitativ guten Vorschulpädagogik und dem späteren Schulverlauf.
Die Bundesrepublik rekrutiert für
die Kleinsten überwiegend Frauen, die
nicht selten - so Donata Eschenbroich
- mit der Last eigener unerfreulicher
Bildungswege antreten und gerade mal knapp über 1000 brutto verdienen.
Sie haben oftmals selbst keine guten Erfahrungen mit dem Lernen gemacht
und Angst vor allen technischen und
naturwissenschaftlichen Aufgaben.
Ihre Ausbildung muss daher ebenfalls berücksichtigt werden, wenn man dem
Bildungsauftrag der Kindergärten gerecht werden will.
Erste Forschungsansätze in Deutschland
Ansätze für ein Bildungsangebot für Kindergärten, das auch
naturwissenschaftliche und technische Aspekte umfasst, gibt es schon seit
längerem, auch wenn sie jetzt erst nach dem PISA-Schock von einer breiteren
Öffentlichkeit entdeckt werden. Pionierin ist in diesem Bereich sicherlich
Gisela Lück, Professorin für Chemie-Didaktik an der Universität Bielefeld, die
seit fast zehn Jahren naturwissenschaftliche Experimente im Kindergarten
erprobt und deren Habilitationsschrift Naturwissenschaften im frühen
Kindesalter auch
eine der Grundlagen der folgenden
Ausführungen sein wird. Sie hat ihre Experimente in Kindergärten mit völlig
unterschiedlichem Einzugsbereich durchgeführt. 70 Prozent der Kinder
entschieden sich jeweils dafür, an den Experimenten teilzunehmen, die jede
Woche einmal für etwa 20 Minuten durchgeführt wurden. Ein halbes Jahr später
erinnerten sich noch fast die Hälfte der Kinder an die Versuche und konnten
auch die Prinzipien erklären. Offensichtlich sind die Kinder in dieser Zeit
offen für Naturwissenschaften, ein Faktum das man auch ohne weiteres am
Beliebtheitsgrad von Fernsehprogrammen wie der Sendung mit der Maus oder
Löwenzahn festmachen kann. Gisela Lück verweist aber auch darauf, in diesem
Alter besser noch nicht vom Lernen zu sprechen; sie verwendet statt dessen
den Begriff Erfahren.
Für den Grundschulbereich arbeitet
die Entwicklungspsychologin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in
Berlin, Elsbeth Stern. Sie hat in mehreren Versuchen nachgewiesen, dass Kinder
weit früher als angenommen physikalische Gesetze begreifen können. Oft könnten
Kinder mit ganz erstaunlichen Erkenntnissen verblüffen, wenn es nur gelingt,
ihre Neugier zu wecken. Sie erwerben in rasanter Geschwindigkeit Wissen, wenn
sie dabei möglichst viel selbst ausprobieren und mit Gegenständen
experimentieren, die sie aus ihrem Alltag kennen.
Gemeinsam mit Kornelia Möller, Professorin für Didaktik des Sachunterrichts im
Primarstufenbereich an der Universität Münster, betreut sie ein Projekt, in dem
die Bildungsqualität von Schulen untersucht wird und in dem das Lernen und
Unterrichten von Mathematik und Naturwissenschaften im Vordergrund stehen. Hier
werden beispielsweise Unterrichtsreihen zu Themen wie Was passiert mit einem
Mohrenkopf im Weltraum? ausgearbeitet.
Wassilios E. Fthenakis hat
inzwischen ein Buch herausgebracht, das die wesentlichen Erkenntnisse aus der
Frühpädagogik, Psychologie, Hirn- und Bildungsforschung aufarbeitet und neue
Modelle zur Qualitätssicherung in Kindertagesstätten vorstellt und entsprechend
die fachlichen Grundlagen für die Reform des Bildungsauftrags der
Kindertageseinrichtungen liefern soll.
Dass ein Prozess des Umdenkens begonnen
hat, wird nicht nur daran deutlich, dass an immer mehr Hochschulen über das
Thema geforscht wird. Auch zahlreiche Kindergärten haben sich der Fragen
angenommen. Hinzu kommt die Einrichtung erlebnisorientierter Museen, der
sogenannten interaktiven Science Center,
nunmehr auch in Deutschland, in denen Kinder, Eltern und Erzieher
zahlreiche Anregungen bekommen können.
Außerdem gibt es inzwischen eine Reihe spezieller Kindermuseen.
Auch einige Industrieunternehmen betreiben erfolgreich Laboratorien, in denen
sich Kinder und Jugendliche mit der Welt der Naturwissenschaften und Technik
vertraut machen können. Firmen wie BASF, die Hoechst AG und die Bayer AG
veranstalten Tage der offenen Tür und sogenannte Mitmachlabore und führen
Veranstaltungen durch, die speziell für Kinder im Kindergarten- und
Grundschulalter geeignet sind. Dabei wird bei der Auswahl der Experimente immer
auf einen lebensweltlichen Bezug geachtet.
Erste Neuorientierung im Bereich der
Kindertageseinrichtungen
Im Bereich der Tageseinrichtungen
für Kinder bis zu sechs Jahren hat sich in den zwei Jahren nach PISA ebenfalls
viel verändert. So ist in Nordrhein-Westfalen zum 1. August 2003 eine
Vereinbarung zu den Grundsätzen über die Bildungsarbeit der Tageseinrichtungen
für Kinder in Kraft getreten, die von der Landesregierung gemeinsam mit den
Trägern der Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen entwickelt worden ist. Diese
Vereinbarung beinhaltet neben anderen die Bildungsbereiche Natur und kulturelle
Umwelt(en). Die Handreichungen sehen für die verschiedenen Bildungsbereiche
grundsätzlich die Innere Verarbeitung durch Eigenkonstruktion und durch
naturwissenschafltich-logisches Denken sowie den Bereich Forschendes
Lernen vor und nennen hier Beispiele auch aus dem naturwissenschaftlich-technischen
Bereich.
Während es sich bei den
nordrhein-westfälischen Bildungsvereinbarungen um einen offenen Plan handelt,
der inhaltlich genauer von den einzelnen Einrichtungen ausgestaltet werden
muss, setzt das Staatsinstitut für Frühpädagogik im Auftrag des Bayerischen
Staatsministeriums für Arbeit- und Sozialordnung, Familie und Frauen unter der
Leitung von Prof. Fthenakis auf einen ausdifferenzierteren Bildungsplan, der
inzwischen komplett im Internet, aber auch als Buch verfügbar ist und zunächst in
mehr als 100 bayerischen Kindertageseinrichtungen
erprobt wird. Er beschreibt Ziele für Kinder von 0 3
Jahren und von 3 6 Jahren und sieht bei letzteren u. a. das systematische
Beobachten, Vergleichen, Beschreiben und Bewerten naturwissenschaftlich-technischer
Vorgänge sowie eine regelmäßige und
wiederholte Durchführung von kindgerechten, wissenschaftlichen Experimenten
vor!
Der bayerische Plan wie auch die nordrhein-westfälische Vereinbarung sollen in
einem kontinuierlichen Evaluationsprozess
verbessert werden.
Die Bundesländer Berlin,
Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben ebenfalls
Entwürfe vorgelegt, die die naturwissenschaftlich-technische Bildung der Kinder
im Vorschulalter berücksichtigen.
Insgesamt gesehen lässt sich also
in Bezug auf die Möglichkeiten naturwissenschaftlich-technischer Früherziehung
durchaus eine Art Aufbruchstimmung in
der Bundesrepublik feststellen. Bislang waren jedoch die Auswirkungen auf das
allgemeine Interesse an naturwissenschaftlich-technischen Fragestellungen und
die Naturwissenschaftsakzeptanz noch nicht Gegenstand von Untersuchungen.
Allerdings zeigt eine Analyse von 1345 biografischen Daten von Studienanfängern
des Faches Chemie, die sich für ein Stipendium des Fonds der Chemischen
Industrie beworben haben, wie prägend
die frühe Begegnung mit Phänomenen der Physik und Chemie ist. Der Anstoß, sich
mit Chemie zu befassen, kam bei 22 Prozent der Probanden bereits im
Vorschulalter!